Sonntag, 7. Dezember 2008

Was mache ich hier eigentlich?



Es ist Sonntag 7 Dezember, 12:55. Ich sitze auf dem Balkon unseres AIESEC Trainee Houses. Ich habe mir vorgenommen heute mal nichts zu unternehmen, wie sonst üblich an meinem freien Tag. Ich genieße die Sonne. Es ist spürbar kälter geworden, nachts klettert die Temperatur auf vielleicht 5-10 Grad oder so. Aber gegen Mittag ist es immer noch recht warm, T Shirt Wetter. Und es ist trocken, seit ich Hamburg am 15. August verlassen habe, hat es nicht einmal geregnet. Nicht im Iran, nicht in Delhi. Monsun habe ich knapp verpasst. So ein richtig schönes Gewitter mit anschließendem Wolkenbruch das wär was…

Heute ist wird ein schöner Tag, Güzin aus Istanbul, meine neue Zimmergenossin feiert heute Abend in ihren Geburtstag rein. Sie ist ein interessanter Typ, Buddhistin, Psychologin, Meditation, Yoga. Sie tanzt den ganzen Tag in der Wohnung rum.

White Smyle Dental Spa and Dental Clinic

Aber nun endlich zu meinem Job. Was mache ich hier eigentlich? Zuerstmal eine nüchterne Beschriebung. Ich mache 6 Monate ein Praktikum. Die Firma in der ich arbeite heisst „White Smyle Dental Spa and Dental Clinic“ und ist ein Start-Up Unternehmen.

www.whitesmyle.com

Worum geht’s? Es handelt sich um ein neues Konzept einer Zahnärztlichen Praxis. Man kann sich eine normale Zahnartzpraxis vorstellen, die aber optisch sehr ansprechend gestaltet ist und in der man zusätzlich zur Zahnärztlichen Behandlung weitere Services in Anspruch nehmen kann, sog.“ Spa Services“. In Deutschland würde man das wahrscheinlich Wellness nennen. Der Patient kann also während einer saftigen Wurzelbehandlung eine Fuss- oder Nackenmassage bekommen. Auch möglich sind Ganzkörpermassagen vor oder nach der Zahnbehandlung. Diese „Spa-Services“ sind optional zur eigentlichen Behandlung. Die Idee dahinter ist, den Patienten von der evtl. durchaus schmerzlichen Prozedur in seinem Mund abzulenken. In unseren Marketing Broschüren nennen wir das „Painless Experience“ und „Create a Home away from Home“. Mir fällt gerade ein, das der Zahnarzt in Neuwiedenthal, bei dem ich als Kind so einige Zeit auf dem Stuhl verbracht habe ein Poster an der Decke angebracht hatte. Darauf war im Comic Stil eine Stadt abgebildet, in der es einiges zu entdecken gab. Die Idee war wohl die gleiche: Ablenkung von dem Schmerz. Leider war die Comic Stadt nach 2 bis 3 Besuchen schon vollständig erkundet und meine Aufmerksamkeit verlagerte sich wieder Richtung Bohrer. Die Inder sind da wie so oft cleverer. Bei White Smyle ist neben der Lampe und dem sonstigen zahnärztlichen Gerät ein Flat-Screen angebracht. Mit Hilfe der kabellosen Kopfhörer kann sich der Patient vollständig auf den Hollywood Blockbuster konzentrieren. (Marathon Man mit Dustin Hoffman ist nicht im Programm). Bollywood ist natürlich auch möglich.


Was ist ein Start-Up Unternehmen? Das ist ein BWL Ausdruck und bezeichnet eine Firma in der Gründungsphase. Also die Zeit in der eine Firma einen Kundenstamm aufbaut und sich zeigt ob das theoretische Geschäfts-Konzept auch in der Realität funktioniert. Üblicherweise werden in dieser Phase viele Erfahrungen gesammelt und Dinge wie Preise, Marketing, Angebote, Produkte angepasst. Kennzeichnend sind auch, dass es in dieser Start Up Phase hauptsächlich darum geht zu überleben, die Firma auf den richtigen Weg zu bringen (in die schwarzen Zahlen) und zu wachsen. Das bedeutet, dass alle Beteiligten sich extrem reinhängen. Das Geld ist immer knapp, es sind Ideen und Kreativität gefragt.


"Free Dental Check Up"

Was ist mein Job? White Smyle hat zwei Zielgruppen, zwei Zielmärkte. Zum einen die Indische Bevölkerung in South Delhi. Die traditionelle Zahnarztlandschaft in Indien ist eigentlich rel. ähnlich wie in Deutschland. Es gibt hauptsächlich kleinere Praxen, die sich in ihrer Umgebung einen Namen machen und somit ihren Patienten (Kunden) stamm aufbauen. Der Name des Zahnarztes ist entscheidend. „Wohin gehst du zum Zahnarzt?“ „Zu Dr. Müller“ – oder in South Delhi „zu Dr. Mukerjee.“ Der Ansatz von White Smyle ist es einen „Markennamen“ aufzubauen. Entscheidend bei uns ist nicht der Name des Doktors sondern die Marke „White Smyle.“ Wir bieten alle Behandlungen an, die es gibt, von Wurzelbehandlung und Kronen über Brücken und Implantaten zu Zahnspangen und Zahnreinigung. Wir haben einen „In-House Dentist“, der permanent da ist und 13 Spezialisen, die nur zu den Terminen kommen, z.B. für feste Zahnspangen. So bieten wir das komplette Programm an und haben trotzdem sehr wettbewerbsfähige Preise. Zusätzlich haben wir einen sehr Patientenfreundlichen Service, den die üblichen Zahnärzte nicht haben. Bei uns muss keiner lange warten, die Patienten werden vor und nach den Terminen angerufen und gefragt, ob alles ok ist und alle Kosten werden vor der Behandlung ausführlich besprochen. Ein weiterer großer Unterschied ist, das wir wie eine Firma arbeiten. D.h wir machen uns Gedanken darüber, wie wir Geld verdienen können und wie wir wachsen können. In den ersten 2 Monaten hab ich bisher hauptsächlich an unserem Marketing Konzept gearbeitet und es umgesetzt. Aktuell überlegen wir, mit welcher Strategie wir uns am besten vergrößern. Wir haben schon einige Gespräche mit potentiellen "Franchisees" geführt, also Leuten, die mit unserem Konzept und unserem Markennamen eine "Filliale" eröffnen wollen. Das funktioniert im Prinzip genauso wie McDonalds. Sehr interessant, wir arbeiten gerade an dem Franchising Konzept.

Das Spannende ist, das wir im Prinzip kein Geld haben und deshalb gute Ideen haben müssen. Als Werbung hat bisher „Direkt Mailing“ am besten funktioniert. Wir haben in Word einen Brief verfasst, der den Empfänger auffordert zu einen “Free Dental Check up“ zu uns in die Klinik zu kommen. In Indien werden die Namen und Adressen von allen Wahlberechtigten frei zugänglich für die verschiedenen Bezirke im Internet veröffentlicht. Aus dieser Quelle haben wir die Daten kopiert und schicken unsere Einladungen mit persönlichem Empfänger an alle Haushalte in unserer Umgebung. Diese Werbe-Maßnahme kostet uns also lediglich den Ausdruck und den Briefumschlag. Das verteilen an die Briefkästen übernimmt unser „Hygienist“, der Assistent des Inhouse Doctors und „Office Boy“. Er erledigt alle möglichen arbeiten, hauptsächlich ist er Laufbursche. Diese Maßnahme brungt uns die meissten neue Kunden. Ausserdem können wir super nachvollziehen wie viele Walk-Ins wir dadurch bekommen, weil wir dazu auffordern den Brief mitzubringen, um die 25% Discount on all Services zu bekommen. Somit haben wir ein Marketing Instrument, dass fast nichts kostet, sehr effektiv und dazu noch sehr gut messbar ist. Z.B haben wir jetzt nach ein paar Durchläufen den Brief angepasst und speziell Kronen, Brücken und Gebisse angepriesen. Im Internet steht auch das Alter der Wahlberechtigten, dieser neue Brief geht an alle über 30.

Neben dem Direct Mailing haben wir auch Zeitungsannoncen in allen wichtigen Zeitungen. Allerdings sind normale Annoncen zu teuer für uns, doch zum Glück gibt es die „inoffiziellen Annoncen.“ Eine Firma druckt Annoncen auf Zeitungspapier und besticht die Zeitungsausträger. Sie legen dann den „Extra Teil“ in alle großen Zeitungen.

Ein anderes kleines Projekt von mir war ein Newsletter. Um die Patienten an uns zu binden haben wir eine Mitgliedschaft, die allerlei Vorzüge bietet. Für die Mitglieder habe ich so etwas wie eine „Apothekenumschau“ zusammengestellt. Eine vierseitige Broschüre mit Case Studies, so etwas wie Dr. Sommer in der Bravo: „Ask your Dentist“ und anderem unwichtigem Kram. So werden unsere Mitglieder auch zu Hause an unsere Marke „White Smyle“ erinnert. Ausserdem liegt der Newsletter im Wartezimmer aus und wird recht fleissig durchgeblättert.

Eine weitere Maßnahme sind Coupons, die z.B. in einem Hair Salon in der Gegend zusammen mit der Quittung an jeden Kunden ausgegeben werden. Das Drucken der Coupons war wesentlich teurer als die Direct Mailings, haben aber bisher kaum response gebracht.



Medical Tourism

Der zweite Markt für uns ist „Medical Tourism“. Bevor ich nach Indien kam hatte ich noch nie davon gehört, aber es reisen viele Leute ins Ausland um eine medizinische Behandlung zu bekommen die sie sich im Heimatland entweder nicht leisten können oder auf die sie zu lange warten müssten. Seit ich hier bin habe ich viel über Medical Tourism gelernt. Das ist ein wachsender Markt. In Ländern wie Thailand, Costa Rica, Brasilien, Türkei, Polen, Ungarn und eben Indien entstehen riesige Krankenhäuser, die alle möglichen Eingriffe anbieten. Von der Schönheits-OP bis zu orthopädischen Eingriffen – für einen Bruchteil des Preises in westlichen Ländern. Mal zum Vergleich: ein Implantat aus Titan (also eine Halterung für eine Krone, die in den Knochen eingepasst wird, wenn ein kompletter Zahn inklusive Wurzel entfernt werden musste) + Krone kostet 780 Euro. Das Implantat hat 10 Jahre, die Krone 5 Jahre Garantie. Hier in Indien gibt es riesige Krankenhäuser, die eher einem 5-Sterne Hotel gleichen als einem normalen Deutschen Krankenhaus. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich in Zukunft sehr viel mehr Leute dafür entscheiden ins Ausland zu fahren um sich operieren zu lassen. Unsere Zielländer sind hauptsächlich USA und UK, weil es dort eine große Bevölkerungsschicht ohne oder mit nicht ausreichender Krankenversicherung gibt. Allein in den USA leben 45 Mio Menschen ohne jegliche Krankenversicherung, 120 Mio haben keine Versicherung für zahnärztliche Behandlungen. Der Medical Tourism Markt erlebt gerade einen Hype, viele Unternehmen drängen in den Markt, sog. Medical Tourism Facilitator. Sie sind der Vermittler zwischen den Patienten und Kliniken. Sie promoten Kliniken aus Indien in den USA oder England und regeln die gesamte Reise. So in etwa wie ein Reisebüro. Sie buchen Flüge, Abholung vom Flughafen und wenn gewünscht ein Trip zum Taj Mahal vor oder nach der Brust OP.

Unser Plan ist es mit so vielen Firmen wie möglich Verträge zu machen, bevor sich der Markt sich in Indien richtig etabliert hat. Wir sind sozusagen „Pioneers in Dental Tourism“ to India. Dieser Spruch gehört zu meinem Repertoir wenn ich mich mit den indischen Medical Tourism Facilitator Companies treffe und ihnen unser Konzept verkaufe. Ich habe eine Tabelle mit allen Firmen in dem Bereich, die ich dann anrufe und White Smyle vorstelle. Die in Amerika und UK muss ich am Telefon von uns überzeugen, mit Firmen in Delhi mache ich Termine aus und dann gibt’s ein Meeting. Das war anfangs echt eine harte Herausforderung. Ich musste viel über unsere Behandlungen, wie z.B. „Single sitting Root Canal Treatment“ oder „One Hour Laser Teeth Whitening“ lernen. Zu wissen wovon man spricht ist die eine Sache, ein erfolgreiches Verkaufsgespräch zu leiten noch wieder eine ganz andere. Speziell in Indien. Alleine damit das Meeting stattfindet muss erstmal 7 mal telefoniert werden. 3 mal um interesse zu wecken, 2 mal um das Datum fest zu legen und weitere 2 mal damit man auch wirklich jemanden zur Vereinbarten Zeit antrifft. In den Meetings selber wird dann sehr viel geredet, auch sehr gerne die gleichen Dinge immer wieder wiederholt, es wird viel übertrieben (die Faustregel über Business-Statements in Indien ist: Subtrahiere 5 von 7 Behauptungen, dann hast du eine halbwegs realistische Einschätzung der Firma), und es wird viel versprochen. Sagt mir jemand im meeting das wir unbedingt zusammenarbeiten sollten hat das absolut keine Bedeutung. Das einzige was zählt ist die persönliche Beziehung zwischen zwei Menschen, oder Empfehlungen guter Freunde oder Familienmitgliedern. Selbst wenn ein gutes Geschäft winkt würde es nicht zustandekommen, wenn ein Beteiligter zweifel an der Person hat. Ist also nach einem Meeting eigentlich alles geklärt, muss ich meisst noch 2 weitere Treffen arrangieren um den Deal zu machen. Diese Meetings sind aber bisher das spannendste an meinem Job. Meisst fahre ich alleine mit der Autorikscha in irgendeinen Teil von New Delhi und treffen mich mit indischen Geschäftsleuten um ihnen von White Smyle Dental Spa and Dental Clinic zu erzählen. Das ist echt cool, und so langsam kommen ein paar Verträge zustande. Meine Visitenkarte hilft mir dabei ernst genommen zu werden. Bevor ich diese wichtigen Meetings hatte, hat mein Chef mich erstmal ein paar mal zu "unwichtigen Meetings" geschickt um zu üben. Das hat er mir allerdings erst hinterher erzählt...

Das ist erstmal sachlich erklärt, was ich eigentlich so 6 Tage die Woche von 11:00 bis 20:00 Uhr mache. Aber das ist nur die halbe Warheit, wie so oft in Indien. Sehr speziell sind die persönlichen Beziehungen zu meinen Kollegen in unserer kleinen Klinik. Aber dazu mehr beim nächsten Mal. Jetzt wird erstmal Geburtstag gefeiert. Güzin hat heute ihren Alkohol und Fleisch Tag. Sie hat so einen besonderen Kalender der was mit Planetenkonstellationen oder so zu tun hat und der ihr sagt wann sie was essen darf. In diesem Moment ist sie gerade schreiend auf den Balkon gesprungen „Come...I hope the moon is visible!“ Paolo folgte ihr mit den Worten: „Why not“

Na dann, Prost!